Raising Hands: Lieber Toni, bitte stell dich kurz vor. Wer bist du und wie hat sich dein Weg zum Dompfarrer biografisch abgezeichnet?
Toni Faber: Mein Name ist Toni Faber. Ich habe 1962 in Wien Rodaun das Licht der Welt erblickt, bin dort im Gemeindebau groß geworden, habe einerseits bei den Kinderfreuden sowie bei den Roten Falken und andererseits in der Pfarre soziale Kontakte geschlossen. Ich war Ministrant, Jungscharkind und hab mich dann sehr bald im Gymnasium dazu entschlossen, mehr Verantwortung in der Pfarre zu übernehmen. In der Schule – als Klassensprecher und stellvertretender Schulsprecher – und in der Pfarre als Verantwortlicher für die Jungschar, Ministranten und im Pfarrgemeinderat. Mit 17 Jahren machte ich eine schlimme Zeit durch, die Ärztin meinte zu mir damals „Herr Faber, wenn Sie Pech haben, dann haben Sie nur mehr ein paar Jahre zu leben, denn mit den Nieren stimmt etwas nicht.“ Da habe ich mich dem lieben Gott gegenüber sehr aufgelehnt und gesagt: „Das kannst du doch nicht wollen, ich setze mich sozial für Andere ein und ICH soll jetzt sterben, alle anderen Klassenkollegen, die nur auf sich schauen, die sollen leben?“ Daraufhin stellte ich mir nicht nur, die Frage „Was kann ich aus meinem Leben machen?“, „Was will ich werden?“, sondern „Was will ER (Gott), dass ich mit meinen Talenten tue?“. Da ist aus der guten Erfahrung der pfarrlichen Zusammenarbeit der Wunsch erwachsen und die Berufung: Ich möchte als Priester arbeiten, bei den Höhepunkten und Tiefpunkten von Menschen dabei sein und dem vollen Leben dienen. Da hatte ich ein bisschen Sorgen, als ich ins Priesterseminar eingetreten bin: Ob ich als katholischer Priester zu verklemmt werde, Angst vor der halben Weltbevölkerung haben werde, ob die Welt irgendwie an mir vorbeiläuft und ich mit dem wirklichen Leben nichts zu tun haben werde. Meine Befürchtungen haben sich aber nicht bewahrheitet.
Gerade hier bin ich, seit 30 Jahren am Dom, seit 25 Jahren als Dompfarrer im Leben voll und ganz dabei, spiele eine Rolle und habe eine Aufgabe. Dazu gehört auch die Erfahrung mit Kunst. Es gibt kein Leben ohne Kunst, gerade wenn ich die alte Kunst am Dom bewundere. Doch habe ich mich immer auch für moderne, zeitgenössische Kunst interessiert. Im Rahmen des Priesterseminars war ich schon als Kulturpräfekt tätig, bin in Ausstellungen und internationale Galerien gegangen. Vor 40 Jahren habe ich Monsignore Otto Mauer sehr bewundert, sogar verehrt. Bereits mit dem ersten ersparten Geld habe ich, als ich hier Pfarrer wurde, begonnen, in den Pfarrräumlichkeiten eine Galerie zu schaffen. Mit Werken von Oswald Oberhuber habe ich das Sammeln begonnen. Ab diesem Zeitpunkt sind die Künstlerinnen und Künstler Schlange gestanden und wollten bei mir im Curhaus ausstellen – aber auch im Dom. Natürlich gab mir das Rückenwind, mit dieser großartigen Fläche etwas zu machen. Mir bescherte das Freude, dass wir mit dem Rückenwind der alten Kunst und der Bedeutung des Stephansdoms so in die Gesellschaft hineinkommen konnten. So wie mit dem Projekt der Himmelsleiter von Billi Thanner, die man in ganz Wien sehen kann. Das ist doch fantastisch! Auch der Fastenpullover von Erwin Wurm – es ist einfach grandios, wie wir weit über das eigene katholische, brave, konservative Klientel hinaus viele Menschen erreichen können und plötzlich wieder mehr Relevanz haben. Diese Lebensrelevanz ist mir an der Religion und an der Kirche sehr, sehr wichtig. Ich kann mit den hunderten Kindern, die ich im Dom getauft habe, mit den tausenden Jugendlichen, die ich insgesamt gefirmt habe, mit den 50 Hochzeiten, mit den 50 Begräbnissen und 150 Geschäfts- sowie Lokaleröffnungen pro Jahr und mit hunderten Interviews belegen, dass wir lebensrelevant sind.
Eine Religion, die nicht dient, eine Kirche, die nicht dient, dient zu nichts.
Raising Hands: Gibt es einen weiteren Stellenwert in der Kunst, den du herauskehren möchtest?
Toni Faber: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich seelsorglich Licht und Schatten kennenlerne. Tiefe Schuld, Reue, Versagen, Scheitern, Krankheit, Lebensbedrohlichkeit und auch Freude, überschäumende Freude mit Hochzeiten und Taufen gesunder Kinder, wo Schlimmes erwartet worden ist. Die Kunst aber kann verdichten. Jedes tolle Theaterstück, jeder tolle Roman, jede fantastische bildnerische oder auch skulpturale Darstellung, ist einfach etwas Verdichtendes, das mir Lebensrelevanz und Lebensgefühl vermittelt. Das kann nicht gegeneinander ausgespielt werden. So etwas hilft mir, das andere zu deuten, zu empfangen und besser zu ertragen.
Wenn ich vor einem Gefühl des Scheiterns stehe, wie ganz aktuell, weil ich am Vormittag von drei Frauen erfahren habe, die Brustkrebs haben und um ihr Leben bangenn – was kann man da dagegenhalten? Da schaue ich auf die Kunstwerke von Hrdlicka, Prachensky oder Petric in meinem Büro und kann mich durch ihre Kunst wieder stärken. Wie auch beim Anblick der Himmelsleiter, die im kleinen Modell bei mir am Tisch steht: Da schaue ich hin und es geht weiter. Es geht weiter, ich muss mich Sprosse für Sprosse, Tugend für Tugend empor hanteln und kann mit moderner, zeitgenössischer Kunst verdichtete Lebenserfahrung als Stärkung und Ermutigung erfahren.
Raising Hands: Ist Kunst für dich eine Art Kommunikationstool?
Toni Faber: Natürlich! Über moderne Kunst erreiche ich Leute, die ich mit einem gotischen Kirchenbauwerk nicht erreiche. Mit zeitgenössischer Kunst erreiche ich Gruppen und Menschen jeglicher Biografie. Auch Menschen, die mit der Kirche abgeschlossen haben und enttäuscht sind. Plötzlich aber kommt über so eine Intervention eine Kommunikation, ein Dialog, ein Händereichen über Kunst. Es entstehen neue Gesprächsfelder, neue Begegnungs- und Dialogmöglichkeiten und das ist toll.
Raising Hands: Kommen wir auf Raising Hands zu sprechen. Bei Raising Hands stehen Solidarität und das gemeinsame Wirken für eine starke Gemeinschaft im Vordergrund. Das sind so wichtige Aspekte, die ja auch im Glauben zu finden sind. Kannst du kurz auf diese Aspekte eingehen? Wie wichtig sind diese Aspekte für dich und was hat Kunst mit Glaube gemeinsam?
Toni Faber: Man kann weder allein glauben noch als Mensch ohne Gesellschaft leben. Es gibt zwar das christliche Modell des Einsiedlers, der sich aus einer Familien- bzw. Ordensgemeinschaft temporär zurückzieht und in die Einsamkeit geht. Aber Glauben heißt mehrheitlich doch, nicht in der Einsamkeit, solitär für sich zu leben und zu arbeiten, sondern eingewoben in die Welt. Leben und Gemeinschaft gehören zusammen: Ich komme von einem Elternpaar, das mich gemeinsam erschaffen hat durch die Kraft Gottes, die sie in ihrer Liebe fruchtbar gemacht hat. Wenn ich das ernst nehme, dann sehe ich mich in diesem Kommunikationsgeschehen der Welt wieder – mit meinem Körper, meinen Gedanken, mit all dem, was wir geschichtlich an Kultur erschaffen haben, mit meiner Kleidung, meinem Hab und Gut, meiner Sprachgestalt und auch mit meinem kulturellen Schaffen, wo Kunst unmittelbar dazugehört.
Warum gibt es Höhlenmalerei? Für mich ein Zeugnis der Menschen: „Ich möchte nicht nur ums Überleben kämpfen, sondern ich möchte LEBEN.“ Zum Leben gehört Sinn, ebenso wie die Deutung des Sinnes.
Um mit den Hochs und Tiefs des Lebens klarzukommen, helfen Formen der Kultur, die wir Kunst nennen. Und da hilft der Glaube. Deshalb habe ich sehr darunter gelitten, dass die Kirche im Laufe der Geschichte irgendwann nicht mehr direkt an den Kunstschaffenden dran war. Ansonsten hätte man viel früher unglaubliche Aufträge vergeben können und herrliche Kunst geschaffen. Leider war irgendwann in einer konservativen, zurückhaltenden, abgewandten Welt nur mehr das Alte interessant und nicht mehr das Neue. Ich weiß sicher, dass ich in dieser Welt, die existiert, zu Hause sein will. Gerade in der Brüchigkeit der Kunst, dem oft komplexen Verständnis zeitgenössischer Kunstwerke – gerade da kann ich viel voranbringen, vor allem für die Gesellschaft, für die Menschen und für die Funktion der Kirche.
Raising Hands: Was reizt dich am Projekt Raising Hands besonders oder was gefällt dir daran?
Toni Faber: Es ist einfach für sich sprechend. Einander helfende Hände brauchen keine seitenlange Erklärung. Wenn man näher hinschaut, kommen gleich Fragen auf: „Sind das wirklich eine Millionen 1-Cent Münzen? Was ist das denn wert? Könnte man das stehlen oder wegtragen?“. Kunst, die keine Erklärung braucht, ist faszinierend: die Himmelsleiter von Billi Thanner, der Fastenpullover von Erwin Wurm, die Raising Hands. Ich habe auch schon moderne Kunstwerke in den Dom gebracht, die schwerer zugänglich war und zu einer interessanten Diskussion mit Kardinal Schönborn geführt hat. Raising Hands hingegen war eine klare Sache. Wir können nicht anders durch die weiteren Wochen und Monate der Pandemie durchgehen, als zumindest einen kleinen Beitrag für das Gemeinwohl zu leisten. Es nützt nichts nur zu sagen: „Ich habe Angst vorm Stich, da könnte ja was passieren“ und alles andere ist mir wurscht, wie es etwa auf den Intensivstationen aussieht. Das ist meines Erachtens von vielen egoistisch gedacht. Daher ist umso schöner und wichtiger, denen ein Zeichen zu setzen, die mitgemacht haben, um so ein gestalterisches Werk zu realisieren. Auch ich habe 30 bis 40 Münzen geklebt. Ein echtes Gemeinschaftswerk, bestehend aus vielen tollen Beiträgen.
Raising Hands: Zusammenhalt ist sehr wichtig, gerade auch in der Pandemie. Was würdest du dir wünschen oder auch, gerade in diesen Zeiten, den Menschen raten?
Toni Faber: Wir merken ganz klar, wie sehr wir aufeinander angewiesen sind. Das haben vor allem die Lockdowns gezeigt. Wir sind auf so viele angewiesen, die für uns arbeiten, die bestimmte Dienste aufrechterhalten. Beispielsweise Bäckereien, öffentlicher Verkehr, Sicherheit, Gesundheitssystem, Pflege oder medizinischer Bereich. Und was kann ich für diejenigen tun, die jetzt für mich arbeiten? Was kann ich tun und wo ist mein guter Wille zum Mitmachen und Durchhalten gefragt? Am besten den Nächsten die Hand reichen – wenn auch oft jetzt nicht wörtlich gemeint. Ich habe es mir schon fast abgewöhnt, die Hand zu schütteln. Manchmal muss man Zurückhaltung üben, manchmal dann eben doch die Hand zur Stärkung reichen, dort ein Lächeln oder Aufmerksamkeit schenken. Als Christ lebe ich ja in der Gegenwart Gottes, deshalb versuche ich auch so zu leben.
Raising Hands: Vielen Dank für das Gespräch!
Toni Faber: Danke euch.